Polyamor
Er wird's nicht Generation Y

Polyamorie: Freiheiten und andere Blockaden

VON GAST

(geschrieben von Tom)

Du und ich, wir leben polyamor, in einer offenen Beziehung. Wir haben also alle Freiheiten der Welt, sind beide ständig unterwegs, treffen spannende Leute und haben heiße Dates. Wir schlafen ständig mit anderen Menschen und feiern wilde Orgien. Völlig losgelöst und außer Rand und Band. Wir finden dann ab und zu zueinander. Wenn uns danach ist, genießen wir dann mal den Sex miteinander und haben ein schönes Frühstück am Morgen danach.

Möglich, dass das die Vorstellung einiger Menschen ist, die andere Lebensweisen sowieso ablehnen und die Menschen, die ihre Beziehung offen leben, als aus der Art geraten ansehen. Keine Sorge, dass hier soll kein Loblied für offene Beziehungen werden. Wie Menschen leben wollen, ist individuell. Letztlich muss ja jeder seinen ganz eigenen Weg finden. Natürlich gibt es hier auch eine Idealvorstellung in unserer Gesellschaft, die noch vielerorts im Gedankengut der Menschen verankert ist. Eine monogame Mann-/Frau-Beziehung, die heiraten und eine Familie gründen. Doch es gibt genügend anders Denkende, die auch in einer Vielzahl von alternativen Beziehungsmodellen leben.

Polyamor: Freie Liebe und so

Ok, die Menschen sind offener geworden und leben freier ihre Bedürfnisse aus. Du und ich haben uns gleich von Anfang an für eine offene Beziehung entschieden. Ja, wir räumen uns Freiheiten ein, auch mal mit anderen Menschen auszugehen und ggf. mit ihnen Sex zu haben. Es könnte also alles so einfach sein, man könnte ganz frei alle seine Begehren ausleben – freie Liebe und so…
Nun ja, natürlich nehmen wir uns unsere Freiheiten, doch darum soll es in diesem Text gar nicht gehen. Ich möchte hier meine ganz persönlichen Erfahrungen zu diesen sogenannten Freiheiten in einer offenen Beziehung teilen.

Es gibt diese Freiheiten tatsächlich

Es gibt diese Freiheiten tatsächlich und wir beide haben diese Zeit auch schon genutzt und sicher auch genossen. Doch man sollte nicht glauben, dass immer alles so easy ist. Es gibt auch einfach Situationen wo nichts läuft, Dinge schieflaufen oder das Problem ganz einfach bei einem selber liegt. Ich kenne Phasen, in denen man einfach nicht offen für neue Bekanntschaften ist. In einer solchen Phase läuft wenig bis gar nichts. Man kann so viel Ausschau halten nach interessanten Menschen, man wird einfach niemanden finden.

Oder der Klassiker, die Arbeit. Manchmal muss man sich im Leben eben auch mal auf andere Dinge konzentrieren. Und um einen gewissen Lebensstandard zu haben, muss man eben auch Geld verdienen gehen. Nicht selten sind die Zeiten sehr stressig. (Sicher vielen bekannt!). Bei mir kann das verschiedene Dinge auslösen, allerdings ist es selten so, dass ich mega viel Lust auf Sex bekomme. In solchen Phasen bin ich auch nicht gerade bereit dafür mir heiße Dates zu suchen. Es kann auch eine schlechte Stimmung zwischen uns sein, die meine Stimmung auf Abenteuer killt. Ich bin vielleicht auch etwas sensibler, auf jeden Fall können mich auch schon kleinere Dinge aus der Bahn werfen und dann will ich noch nicht mal ansatzweise etwas von Abenteuern wissen. Meine Güte, dass kann sogar schon ein verspannter Nacken sein, oder allgemeines Unwohlsein.

Frei im Kopf

Egal, es gibt viele Dinge, die dazu führen, dass der Kopf einfach nicht frei sein will. All diese vermeintlichen Freiheiten einer offenen Beziehung bringen einem nichts, wenn man nicht frei im Kopf ist. Gerade dieses „frei im Kopf sein“ muss man sich immer wieder erarbeiten. Das muss man natürlich ganz alleine für sich tun, aber auch Du und ich arbeiten regelmäßig daran. Gerade der ganz normale Alltag kann einen manchmal echt „auffressen“. Arbeit, Kind, Freunde, Familie, individuelle Bedürfnisse und alles will in 24 Stunden eines Tages untergebracht werden. Schließlich bleibt gar nicht mehr so viel Zeit übrig, um auch noch Abenteuer unterzubringen. Wir müssen uns da schon ein wenig organisieren.

Alltag kann einen manchmal echt „auffressen“.

Wenn dann doch mal Zeit ist, ist das manchmal so, als müsse man auf den Punkt funktionieren. Dann steht da eine wirklich sexy Frau vor mir, die sich auch noch extra heiße Sachen für mich angezogen hat und ich „funktioniere“ einfach nicht richtig. Ja, es ist schon so, dass man sich zum richtigen Zeitpunkt einfach mal fallen lassen können muss. Mir fällt das tatsächlich manchmal schwer. Warum auch immer, aber dadurch kann ein Abend echt komisch enden. Dann kommen bei mir plötzlich so einige Fragen auf: „Lag es an mir? Fehlt mir etwas? Ist mit mir etwas nicht in Ordnung?“. Natürlich frage ich mich dann auch, ob ich vielleicht doch nicht so sehr auf diesen Menschen stehe. Diese Frage ist dann schwierig zu beantworten. Die noch entscheidendere Frage ist aber, ob man sich möglicherweise dennoch mit diesem Menschen ein weiteres Mal trifft.

Ich finde das schwierig. Trifft man sich mit jemanden erneut, wenn es einmal so gar nicht funktioniert hat? Es gibt da einfach viele Möglichkeiten. Aber da muss man schon ganz schön in sich hineinhorchen. Ich finde es schwierig und ich denke, man muss sehr überzeugt sein, dass es letztlich „nur“ ein schlechter Tag war. Andernfalls befürchte ich, wird auch ein weiteres Treffen keine Besserung hervorbringen.

Eine Frage der Attraktivität

Und hier schließt sich wieder der Kreis. Man muss für sich herausfinden, wann ein Mensch für einen selbst attraktiv ist. Ich schrieb bereits darüber in meinem letzten Text. Wann fühle ich mich wirklich von jemanden sexuell angezogen? Ist es nicht manchmal so, dass man sich mit jemanden trifft, obwohl man sich nicht so ganz sicher ist, ob man sich zu diesen Menschen wirklich hingezogen fühlt? Vielleicht möchte man manchmal auch einfach nur herausfinden, ob der andere einen heiß findet.

Dann sind da noch die Menschen, die eigentlich „immer können“. Die Menschen, die ihr Gegenüber vielleicht nicht unbedingt abstoßend finden, aber ihn / sie auch nicht wirklich super heiß finden. Die Menschen denen es tatsächlich nur darum geht, sexuelle Befriedigung zu erfahren. Dagegen will ich jetzt auch erstmal nichts sagen, aber zu dieser Sorte gehöre ich wohl tatsächlich nicht. Das ist mir dann doch zu wenig. Ich kann das auch einfach nicht, dieses gegenseitige benutzen, damit man Erleichterung erfährt. Selbst wenn ich es mal schaffen sollte, wäre das so, als wenn ich hungrig anfangen würde Fastfood zu essen. Man ist schnell satt, bekommt aber genauso schnell wieder Hunger.

Man ist schnell satt

Oder ist alles ganz anders? Vielleicht liegt es ja auch einfach nur an mir, weil ich mich nicht genügend locker machen kann. Bin ich dann am Ende vielleicht doch nicht so frei, wie ich gerne wäre? Harte Fragen wie ich finde. Fragen die mich auch echt ein wenig nerven. Vielleicht lebe ich ja in einer offenen Beziehung, bin aber gar nicht selbst so offen, wie ich es gerne wäre. Ein schwieriger Gedanke für mich. Ich denke schon, dass ich offene Beziehung kann, aber so schnelle Nummern „im Vorbeigehen“? Die dann wohl eher nicht. Ich finde das persönlich ganz und gar nicht schlimm. Man muss es bloß für sich wissen und vor allem auch so für sich handeln. Die Versuchung ist natürlich auch für mich groß, gelegentlich mal Fastfood zu essen, wohlwissend, dass es mir ggf. auf den Magen schlagen könnte.

Treiben lassen

Andersherum begegnet man auch Menschen, bei denen in ihrem Umfeld entscheidende Dinge einfach nicht passen. Menschen, die in Partnerschaften leben, wo der Partner nichts mitbekommen darf. Oder Menschen, die in ihrem Leben derzeit einfach nicht glücklich sind. Auch hier können, aus meiner Sicht, sich Treffen schwierig gestalten. Es ist die schwierige Frage danach, mit welchen Menschen sich ein Treffen lohnt oder ganz einfach nicht. Gerade beschleicht mich das Gefühl, dass ich an dieser Stelle anfange zu kompliziert zu denken. Eigentlich sollte man sich einfach mehr treiben lassen. Vielleicht macht man manchmal zu sehr eine Wissenschaft daraus, wenn man sich über alles zu viele Gedanken macht. Ich glaube dabei verkrampfe ich dann einfach zu sehr.

Es gibt aus meiner Sicht also viele Dinge, die einem die Freiheiten in einer offenen Beziehung einschränken können. Ob es Stress ist, bei der Arbeit oder im privaten Bereich. Es können auch körperliche Beschwerden sein. Auch solche, die man sich einbildet. Oder man ist einfach zu verspannt und nicht locker genug und wird durch die fehlende Erektion dann ausgebremst. Am Ende wird einem nur helfen können, dass man es schafft, ganz bei sich selbst zu bleiben und die Dinge leicht zu halten. Eine nicht immer so triviale Aufgabe, sich selber treu bleiben und nicht Dinge tun, bei denen man ggf. im Voraus weiß, dass es einem nicht bekommt, wie Fastfood zum Beispiel.

Es braucht eine individuelle Formel gegen Rohrkrepierer

Man muss wohl seinen ganz eigenen Weg finden, wie man seinen Kopf freibekommt bzw. wie man frei im Kopf bleibt. Es braucht eine individuelle Formel gegen Rohrkrepierer und andere Blockaden, die einem davon abhalten könnten sich frei zu fühlen. Wann funktioniert also eine offene Beziehung wirklich gut? Ich denke, dass diese Frage auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden muss. Da sollte man einen ganz eigenen Text zu schreiben. Doch in diesem Kontext hier kommt es sicher darauf an, dass man sich in einer/seiner offenen Beziehung wirklich wohlfühlen muss. Man muss mit den Dingen, die im eigenen Leben passieren, im Reinen sein. Dieses Gefühl im Kopf frei zu sein, muss man sich immer wieder erarbeiten. Das klingt jetzt sehr nach harter Arbeit, vielleicht ist es das auch. Dennoch sollte man versuchen es leicht zu halten, am Ball zu bleiben und die Dinge die einem wichtig sind nicht zu vernachlässigen.

In diesem Sinne, lasst uns Freiheiten nicht blockieren und uns von Blockaden befreien. Dieser Text geisterte schon eine ganze Weile bei mir im Kopf herum und nun zum Jahreswechsel bin ich endlich dazu gekommen ihn zu schreiben. Aus gegebenem Anlass wünsche ich daher allen ein wundervolles, gesundes und spannendes neues Jahr 2021 mit vielen tollen Momenten und Begegnungen. Cheers!

Foto von Chinmay Singh von Pexels

Über den Autor


Wir sind Isabel und Tom und leben in einer offenen Beziehung. Wir haben eine kleine Tochter und wohnen in zwei Wohnungen auf einer Etage zusammen. Unsere Erfahrungen und alles was uns so bewegt schreiben wir in unserem Blog www.offernerzweier.de nieder. Wir schreiben hauptsächlich für uns, freuen uns aber auch, durch unsere Texte einen Beitrag in der Aufklärung bezüglich alternativer Beziehungsformen leisten zu können.

Der Text ist bereits hier erschienen.

Mehr von OffenerZweier auf ROMANTISCHER WIRDS NICHT gibt es hier.