Warum eine offene Beziehung
VON GAST
Für mich schmeckt Freiheit nach Lakritze. Nach dem Bruch mit Andre, der mich für eine monogame Beziehung mit einer Blondine aus seiner Gegend verließ, und nichts ekliger findet als Lakritz, bekam ich nicht genug davon. Und so wie nicht jeder Lakritze mag, hat nicht jeder den Drang danach zu tun und zu lassen, wonach ihm gerade ist, ohne großartig um Erlaubnis zu fragen. Es gibt viele Menschen, denen ein fester einziger Bezug, ohne Unsicherheiten und Wagnissen, wesentlich wichtiger ist. Gerne auch „bis das der Tod uns“ usw. Ich gehöre nicht dazu. Vor allem auch, weil es keine Garantie für die Ewigkeit gibt. Denn woher sollen wir heute wissen, wer wir in 20 Jahren sein werden, geschweige denn was wir brauchen und wollen?
Letztens in der Seitenstraße um die Ecke, fragte ich in aller Hektik einen jungen Mann, der gerade sein Haus um die Ecke strich, nach der Uhrzeit. Ich war wieder zu spät dran und mein Handy lag natürlich ganz tief unten in meiner Tasche. Ich hatte nicht vor eine großartige Konversation zu beginnen. Gegen einen netten Flirt / einen kleinen Blick, habe ich auch in der größten Zeitnot jedoch nichts einzuwenden. Er war anscheinend meiner Meinung. Seine Gefährtin, die eine Minute später, mit einer Farbrolle in der Farbe Krawall(-rot) und einem ähnlichen Gesichtsausdruck, um besagte Ecke kam, nicht. Mit einem kurzen Lächeln, auch in ihre Richtung, flüchtete ich. Mir kam es vor, als würde auch sie kein Lakritz mögen.
Über (offene) Beziehungen
Monogamie mit dem Wunsch auf Ewigkeit, ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Ich finde es gut, wenn Menschen so leben wie es ihnen gefällt. Mir ist egal ob sie dies mit einer, drei oder gar keiner Person tun. Was mir jedoch auffällt ist, dass der Wunsch nach einer monogamen Beziehung gar mit Kind, Kegel, Eigenheim und Baum, nicht selten nur dem Traum des Einzelnen entspricht, weil es dem Traum vieler entspricht.
Die Sicht, dass Beziehungsmodelle so vielfältig sind wie der Mensch an sich, darüber wird seltener nachgedacht. Findet sich ein Paar, findet man aufgrund der Anziehungskraft zusammen. Auf welche Art und Weise man diese Partnerschaft gestalten möchte, bespricht man kaum. Wertverständnisse wie, was bedeutet „Treue“, was „fremd gehen“ oder gar „Betrug“, werden zum Großteil durch gesellschaftliche Konventionen vorgegeben. Gefühle wie Eifersucht und Verlustangst sind nicht selten tief verankert und treten fast schon als Reflexreaktion auf. Für mich persönlich bedeutet Treue Loyalität. Ich verstehe dich und stehe zu dir, ohne Besitzanspruch. Der Wunsch mit jemand anderem zu schlafen ist für mich kein Betrug. Viele Körper sind schön. In unserer heutigen Zeit haben wir so viel Auswahl. Was mache ich in meiner Freizeit? Wo fahre ich in den Urlaub hin? Welches Kleid ziehe ich an? Was möchte ich heute, morgen, übermorgen essen? Selten beschränkt man sich immer auf dieselbe Auswahl. Warum sollte ich dann böse sein, wenn mein Partner auch mal eine dunkle Haut oder einen schmalen Körper spüren möchte? Offenheit ist mir vor allem wichtig. Nicht selten sind sich Paare in klassischen Beziehungen körperlich treu, reden aber nicht über das, was sie beschäftigt, bedrückt oder sogar an dem anderen stört.
Man könnte sich die Fragen stellen: „Warum überhaupt eine Beziehung?“. „Warum eine Verbindung mit ein und demselben Menschen eingehen?“ In der Presse geistert seit einiger Zeit das Wort „Mingel“ umher. Ich bin diesem „Herrn Mingel“ bisher noch nicht begegnet. Allerdings soll es in großen Städten nicht selten sein, dass junge Leute die Ungebundenheit des Singleseins und die Nähe der klassischen Beziehung miteinander verbinden. So schlafen „Freunde +“ miteinander, gehen zusammen ins Kino, ins Schwimmbad oder zum Poetry Slam, bleiben aber trotzdem unverbindlich. Das wäre mir tatsächlich zu wenig.
Da Beziehungen wie gesagt so vielfältig sind wie der Mensch selber, ist mir trotz der Freiheit und Eigenständigkeit eine gewisse Verbindung zu einem Menschen wichtig. Alltag holt das für mich persönlich grässlichste Gefühl hervor: Langeweile. Unverbindlichkeit jedoch, macht mich persönlich einsam. Auch bei offenen Beziehungen gibt es nicht das eine Modell, so wie es auch nicht die eine Pastasoße, oder die eine Art Bolognese zu kochen gibt. So gibt es Beziehungen, in denen alle Partner gleich gewichtet werden (Polyamorie). In anderen wiederum gibt es den einen Partner, mit dem man seine tiefen Gedanken teilt, während man offiziell auch mit anderen schläft. Die Tiefe der Gespräche und die Art der Unternehmungen sind jedoch begrenzt. Die Varianten zwischen diesen beiden Beispielen sind vielfältig. Wichtig ist, dass sich beide einig sind, nebeneinander her gehen, statt sich aneinander festzuklammern und sich die Luft zu nehmen.
Du. Ich. Wir.
Als wir uns im Herbst 2018 kennenlernten, erzähltest du mir von deiner Art der Beziehung, welche ebenfalls klassisch gestaltet war. Obwohl so richtig gestaltet war sie eigentlich nicht. Mit Anfang zwanzig wart ihr verliebt. Themen wie „Wie möchte ich meine Beziehung führen“ und Fragen aller „Und welche Wertvorstellung hast du?“, wurden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besprochen. Ihr machtet es, wie so viele andere. Ihr hattet euch, denn Alltag und die Urlaubspausen. Mit der Hochzeit und den Kindern (anderer Paare) wurden eure sozialen Kontakte weniger und eure Bindung enger. In eurem, wie leider auch in manch anderen (nicht allen!) Fällen, kann man die Bindung mit einem, an eine Hütte festgebundenen Bernhardiner vergleichen. Der Gedanke an eine Öffnung der Beziehung, an mehr Luft, kam, vor lauter Streitigkeiten, jedoch nicht auf.
Nun nach der Trennung lebst du vorübergehend in einer Einliegerwohnung und ab und an beobachtest du ein Huhn, welches ganz nach Belieben den Garten deiner Eltern betritt. Ein selbstbestimmtes Huhn, mit einem Heimatgarten und gleichzeitigem Freiheitsdrang. Diesen Gedanken haben wir aufgenommen und weiter gesponnen. So ist das Leben in einer offenen Beziehung, wie das Zusammenspiel zwischen Huhn und Garten. Wird ein Huhn wie du und ich in dem Garten eingesperrt, besteht die Gefahr, dass ihm langweilig wird, es sich gar eingeengt fühlt und versucht zu fliehen. Flattern wäre eine Möglichkeit. Hat es die Möglichkeit, aus dem Gatter heraus zu treten und die Welt zu erkunden, wird es immer wieder kommen, wenn es dort aus seiner Sicht die schönsten Blumen und das saftigste Gras gibt. Anders herum muss sich natürlich auch das Huhn Mühe geben. Dem Garten wird es nicht gefallen, wenn sich sein Bewohner schlecht benimmt und gar die Blumen abfrisst. Beziehungen jeglicher Couleur sind an sich immer mit Arbeit verbunden.
Der Spruch, „Aus einem du und einem ich wird ein wir“, welcher häufig auf Hochzeitkarten zu finden ist, klingt für mich eher nach Selbstaufgabe.
Vielfach besteht die eingeschränkte Sicht, dass man bei einer offenen Beziehung lediglich mit einer Vielzahl an Personen, neben seiner eigentlichen Beziehung, schläft. So ein Konstrukt ist jedoch wesentlich komplexer und komplizierter, als es sich mancher vorstellen mag. Denn eine Beziehung bei der beide eine Bindung bzw. eher Verbindung verspüren, gleichzeitig aber auch ihre Freiheit ausleben, ist vor allem mit Kompromissen und Rücksicht auf den anderen verbunden. Auch sollte man sich gegenseitig kennen(-lernen) und einschätzen können. Zudem geben zusätzliche Protagonisten, für die das Konstrukt geöffnet wurde, diesem eine weitere Komplexität. Offenheit und Aufrichtigkeit sind unerlässlich.
Ich finde den Begriff „Redebeziehung“ da ganz passend. Ein bedeutendes Unterscheidungsmerkmal zu klassischen Beziehungen ist bei einer offenen der Sex mit anderen. Dennoch geht es nicht hauptsächlich darum. Für mich steht der Begriff „offen“ für Offenheit. Es geht auch um Selbstbestimmtheit, sich ganz frei bewegen und mit dir über die Dinge, die uns bewegen, aufrichtig und auf Augenhöhe reden zu können. Obgleich man auch hier natürlich Kompromisse machen muss, ist man weiterhin sein eigener Mensch und kann auch mal Dinge ablehnen oder alleine bewerkstelligen. Der Spruch, „Aus einem du und einem ich wird ein wir“, welcher häufig auf Hochzeitkarten zu finden ist, klingt für mich eher nach Selbstaufgabe. Eine Beziehung ist aus meiner Sicht kein „du und ich gegen den Rest der Welt“- Kampf, sondern ein Ergänzen der eigenen wichtigen Persönlichkeit.
Wir beide haben eine geringere Aufmerksamkeitsspanne als andere. Sowohl du, als auch ich brauchen immer neue Reize, intensive Momente und Aufregungen. Jeder auf seine ganz eigene Art. Mich macht es stolz, dass wir diese miteinander und getrennt erleben, uns begreifen und austauschen können. Dennoch wurden wir, in diesen ersten 1,5 Jahren, bereits mehrfach vor Herausforderungen gestellt – ein positiver Schwangerschaftstest inbegriffen.
Nach meiner letzten Beziehung bzw. dem Versuch einer polygamen / polyamorösen Beziehung, stand für mich fest, dass ich weiterhin offen lieben will. Als ich dich traf, wollte ich es langsam angehen, Schritt für Schritt. Erst einmal nur du und ich, und dann vorsichtig das Ganze öffnen. Du kamst gerade aus einer sehr engen, monogamen Beziehung und hattest gar keine Vorstellung. Doch wir beide sind nicht die Typen für langsam, bewusst und Schritt für Schritt. Wir handeln intuitiv, dynamisch, nach dem was uns gerade begeistert. Und so finden wir uns zu Beginn, anstatt in Level 1, beim Endgegner der ersten Sektion wieder. Wir stellen uns Reflexgefühlen wie Selbstzweifel, Eiversucht und Verlustangst, befinden uns in Situationen, in denen Sex mit anderen droht zur heimlichen Challenge zu werden und stellen uns der Frage „Was tun wenn ein weiterer Protagonist nicht nur Sex, sondern auch Gefühle im Gepäck hat?“.
Endet eine Beziehung, so fühlt man sich nach einer Zeit befreit. Man tut Dinge ausschließlich für sich. Man fängt an sich leicht zu fühlen und zu wissen was man will. Ich habe mich gefragt, warum das eigentlich nicht immer so ist. Und so bietet eine offene Beziehung die Chance, viel über sich selbst zu lernen und vor allem sich selbst zu stärken. Denn was tut man, wenn man weiß, dass der andere gerade seine Phantasien mit jemand anderem auslebt und dort vielleicht auch übernachtet? Neben dem Umgang mit Gefühlen wie Eifersucht, die schon fast reflexartig aus dem Hinterhalt kommen, lernt man auch seine Zeit zu priorisieren. Denn wenn man sich ausschließlich um Nebenprotagonisten kümmert, bleiben Dinge die einem wichtig sind, Sport, Kunst, Beruf und natürlich die eigentliche Beziehung, auf der Strecke.
So ist es ähnlich wie mit dem Essen: Möchte man seine Figur halten, kann man ab und an gerne mal ein Pralinchen naschen. Man könnte sich aber auch auf den Fußboden setzen und Nutella mit dem Löffel aus dem Glas essen. In diesem Fall wird man sich allerdings verlieren und auseinander gehen wie eine Plundertasche.
Fazit: Eine offene Beziehung ist komplex und kompliziert. Sie ist ein ständiger Aushandlungs- und Austauschprozess, sowie eine Dauerkarte zur Achterbahn der Gefühle. Gleichzeitig wird einem immer wieder aufgezeigt, dass nichts selbstverständlich ist und man jede Minute auskosten sollte.
Du und ich können Abenteuer erleben, Grenzen austesten, uns immer wieder neu begegnen und das Verlangen aufeinander genießen. Natürlich ist der Gedanke, „worauf habe ich mich denn da eingelassen“, nicht selten präsent. Dennoch ist es wichtig „AN DAS ZU GLAUBEN, WAS SICH RICHTIG ANFÜHLT“ (Spruch irgendwo gefunden bei Pinterest).
Titelbild: Foto von cottonbro von Pexels
Über die Autorin
Wir sind Isabel und Tom und leben in einer offenen Beziehung. Wir haben eine kleine Tochter und wohnen in zwei Wohnungen auf einer Etage zusammen. Unsere Erfahrungen und alles was uns so bewegt schreiben wir in unserem Blog www.offernerzweier.de nieder. Wir schreiben hauptsächlich für uns, freuen uns aber auch, durch unsere Texte einen Beitrag in der Aufklärung bezüglich alternativer Beziehungsformen leisten zu können.
Dieser Text wurde von Isabel geschrieben und wurde bereits hier veröffentlicht.
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